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Gefährdungsbeurteilungen: Gefährlich wird's erst ohne

Immer lauter werden die Rufe nach Gefährdungsbeurteilungen in der Windbranche. Dabei ist eine GBU ein alter Hut. Potenzielle Gefahren an oder in einer Anlage zu beurteilen und für die dort arbeitenden Personen Schutzmaßnahmen abzuleiten, fordert das Arbeitsschutzgesetz seit 1996. Aber das Bewusstsein zum Stellenwert einer Gefährdungsbeurteilung wächst erst jetzt, vor allem bei Betreibern. Im schlimmsten Fall machen die sich ohne GBU sogar strafbar. Wie man das umgehen kann und warum eine GBU so wichtig ist, erklärt Sören Tiede, Sicherheitsfachkraft bei ENERTRAG Betrieb und Berater von Betreibergesellschaften.

Sören, im Oktober 2019 wies das Ministerium für Soziales in Schleswig-Holstein in einem Rundschreiben nachdrücklich daraufhin, dass Betreiber und Prüforganisationen von Anlagen gemeinsam für die Sicherheit der Personen verantwortlich sind, die Prüfungen oder Instandhaltungsmaßen durchführen. Warum jetzt? Das ist für die Branche nichts Neues.
Genau, für die Branche, den Gesetzgeber und Fachgremien nicht, aber anscheinend für einige Betreiber. Die Windenergieanlage soll als Investitionsanlage selbstverständlich Ertrag bringen. Uns bei ENERTRAG WindStrom fällt auf, dass viele Betreiber, was ihre Unternehmerpflichten betreffen, nicht ausreichend sensibilisiert sind. Vor allem Unternehmer mit personenlosen Gesellschaften sind sich nicht über ihre Verantwortung bei der Organisation der verschiedenen Gewerke und den dazugehörigen Arbeitsschutz im Klaren und delegieren diese Verantwortung nicht.

Warum das nicht? 
Es herrscht das Missverständnis vor, dass personenlose Gesellschaften keine Verantwortung für den Arbeitsschutz übernehmen müssten, da sie vermeintlich keine Mitarbeiter haben. Dieser Ansatz stoppt aber an einer entscheidenden Stelle: Werden Prüforganisationen oder Instandhaltungsfirmen beauftragt, wird der Betreiber als Auftraggeber zum Arbeitgeber. Hier greift Paragraf 15 des siebten Sozialgesetzbuches. Und er ist verpflichtet die beteiligten Gewerke über die Arbeitsmittel und davon ausgehenden Gefahren zu informieren. Ebenso über die Schutzmaßnahmen.

Wie sehen diese Pflichten konkret aus? 
Zunächst sollte man sich als Betreiber unter anderem folgende Fragen beantworten: Welche Gefahren gehen von der Anlage aus, die ich betreibe? Welche Qualifikation müssen die Personen vorweisen, die eine WEA betreten? Welche Regeln gelten, wenn sich Personen in der Anlage aufhalten? Wie koordiniere ich die verschiedenen Gewerke? Wie ist gewährleistet, dass ich alle Gewerke ausreichend über bestehende Gefahren informiere? Und letztlich, wie kontrolliere ich, dass alle Vorgaben auch eingehalten werden? Diese Fragen werden durch eine Gefährdungsbeurteilung und die daraus abgeleiteten Maßnahmen beantwortet.

Die Gefährdungsbeurteilung als Absicherung für den Betreiber?
Könnte man so sagen. Für den Unternehmer ist es eine Absicherung und ein Muss gleichermaßen. Er trägt die Verantwortung und ist auch derjenige, der haftet. Bestenfalls ist eine GBU eine Gemeinschaftsarbeit zwischen Unternehmer, Mitarbeiter, einer Fachkraft für Arbeitssicherheit und einem Betriebsarzt.

Die GBU ist also verpflichtend?
Ganz klar: Ja! Sie ist keine Empfehlung, sondern gesetzlich vorgeschrieben! Unter anderem im Arbeitsschutzgesetz, in den Paragrafen 5 und 6, und in der Betriebssicherheitsverordnung.

Wie gestaltet sich eine GBU? 
Es gibt zwei Perspektiven, aus der die Gefahren bewertet werden: Die, die von einer Tätigkeit ausgehen können, hier ist die Basis das Arbeitsschutzgesetz, und die, die von dem Objekt als solches drohen. Hier greift unter anderem auch die Betriebssicherheitsverordnung. Beide Sichten verlangen eine Gefährdungsbeurteilung, sprich Gefahrenermittlung, Risikoermittlung und –bewertung, die daraus abgeleiteten Schutzmaßnahmen und die Neubewertung.

Was bedeutet das konkret? 
Ein Beispiel. Wir stellen bei der „Gefahrenermittlung“ fest, dass Arbeiten auf dem Gondeldach einer Windenergieanlage die Gefahr eines Absturzes mit sich bringt. Wie hoch ist die Eintrittswahrscheinlichkeit? Ohne Schutzmaßnahmen, wie ein Sicherungsgurt zum Beispiel, sehr hoch, ebenso die Schadensschwere bei einem Absturz. In diesem Fall würde es bei der „Risikobewertung“ Tod bedeuten.

Wie würden davon abgeleitete Schutzmaßnahmen aussehen? 
Eine würde lauten: Verpflichtende Nutzung eines Sicherungsgurtes und einer PSAgA [Anmerkung der Redaktion: PSAgA=Persönliche Schutzausrüstung gegen Absturz]. Sind alle Schutzmaßnahmen festgelegt, findet eine sogenannte „Neubewertung“ statt, das heißt, dass in unserem Beispiel die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Absturzes mit Todesfolge durch die Maßnahmen drastisch gesenkt wurde. Man kann sich das wie eine Ampelschaltung vorstellen: Vor einer GBU steht sie, was die Risiken angeht, auf Rot. Sie sind nicht hinnehmbar. Mit einer GBU und vor allem mit den Schutzmaßnahmen schaltet sie auf Grün, die Risiken sind gesenkt und akzeptabel.

Kann ich als Betreiber eine Gefährdungsbeurteilung selbst erstellen? 
Ob ein Betreiber selbst die GBU verfasst oder dies an Mitarbeiter oder an ein Subunternehmen delegiert, bleibt ihm selbst überlassen. Verantwortlich bleibt er in jedem Fall. Deswegen ist es enorm wichtig und sehr ratsam, dass der Verfasser einer GBU die nötigen Kompetenzen besitzt. Grundlage hierfür sind die Technischen Regeln für Betriebssicherheit, die klar besagen, dass jene Person auch befähigt sein muss, eine GBU durchzuführen.

Also könnte eine unvollständige oder gar fehlerhafte Gefährdungsbeurteilung schnell nach hinten losgehen? 
Sagen wir es mal so: Eine fehlerhafte GBU ist besser als keine, weil sie zeigt, dass sich schon jemand einmal Gedanken gemacht hat. Fehlt aber eine GBU komplett, fehlen auch die Schutzmaßnahmen und der Staatsanwalt könnte bei einem Unfall mit Personenschaden das als grob fahrlässiges Verhalten seitens des Betreibers der Anlage bewerten. Dieser müsste, neben Personen- oder Sachschaden, sein kaputtes Image verschmerzen und könnte zusätzlich zur Kasse gebeten werden. Es würde nicht nur eine Geldbuße von bis zu 25.000 Euro drohen, sondern auch die Haftung mit seinem Privatvermögen, laut des siebten Sozialgesetzbuches.

Reicht denn nicht der gesunde Menschenverstand aus, um die Gefahren selbst abschätzen zu können?
Eine Gefährdungsbeurteilung ist das dokumentierte Ergebnis dessen. Sie gibt dem Ganzen eine strukturierte Grundlage. Für gewöhnlich müssen mehr als ein Gewerk an einer Anlage koordiniert werden. Und jeder einzelne Mitarbeiter definiert Gefahren und den Umgang mit ihnen unterschiedlich. Die GBU und die daraus abgeleiteten Maßnahmen bringen alle auf einen Nenner.

Warum sollte ich eine Gefährdungsbeurteilung ernsthaft in Erwägung ziehen? Es hat doch bisher alles ganz gut ohne funktioniert. 
Um auf der sicheren Seite zu sein. Warum das Glück herausfordern? Das ist wie mit einer guten Versicherung, bei der ich hoffe, dass der versicherte Fall nie eintrifft. Aber wenn, dann bin ich gut vorbereitet.